Gäuboteartikel vom 20.10.2015 von Holger Weyhmüller
Herrenberg: SPD-Ortsverein feiert 125-jähriges Bestehen -
Festabend am 23. Oktober in der Alten Turnhalle
Eugen Fischer auf einer Aufnahme um das Jahr 1890 herum, als der Wanderarbeiter aus Thüringen zusammen mit 31 Mitstreitern in Herrenberg einen sozialdemokratischen Arbeiterverein aus der Taufe hob GB-Foto: gb
Was heute ungewöhnlich anmuten mag, war damals gang und gäbe: Der Impuls, in Herrenberg einen Sozialdemokratischen Arbeiterverein aus der Taufe zu heben, kam von außen. Es war der aus dem heutigen Thüringen stammende Wanderarbeiter Eugen Fischer, der im Jahr 1890 zusammen mit 31 Mitstreitern diesen - durchaus nicht leichten - Weg ging. Kommendes Wochenende feiert der Herrenberger SPD-Ortsverein also sein 125-jähriges Bestehen.
Hart ist die Arbeit, karg der Lohn. Der Alltag des Schreinergesellen Eugen Fischer ist kein Zuckerschlecken. Er stammt aus dem fernen thüringischen Ehnes bei Meiningen, Beschäftigung findet er als Wanderarbeiter mal hier, mal dort. Und damit ist er nicht alleine. Im Gegenteil. Im Jahr 1890 hält er sich in Herrenberg auf: Der 24-Jährige gehört zu einer ganzen Gruppe von Handwerkern aus der Fremde, die den einheimischen Meistern bei der Renovierung der Stiftskirche zur Hand gehen. Wo er zuvor war, wie er ins Gäu kam, dazu gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Sicher ist nur eins: Am 1. Mai 1890 wird Eugen Fischer zusammen mit anderen in der Gäustadt aktenkundig.
Waldhorn als Stammlokal
Der Schreiner und seine Gesinnungsgenossen - im Handwerk fallen die sozialdemokratischen Ideen freilich schon länger auf fruchtbaren Boden - treffen sich in der Gaststätte Waldhorn beim Hasenplatz. "Das war ihr Stammlokal", weiß Walter Fischer, zwischen 1977 und 1980 und noch einmal von 1983 bis 1984 SPD-Vorsitzender in Herrenberg, heute deren Ehrenvorsitzender und mit Eugen Fischer nicht verwandt. Im Waldhorn legen die Wanderarbeiter die "Schwäbische Tagwacht" aus, das zentrale Organ der SPD im Königreich Württemberg. Durch die Lektüre wissen die Handwerker: Die Sozialistische Internationale hat 1889 beschlossen, am 1. Mai 1890 erstmals einen Tag der Arbeit zu feiern. Walter Fischer: "Sie sind an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen, sondern durch die Stadt bis zum Bahnhof marschiert mit einer roten Nelke im Knopfloch" - in damaliger Zeit eine Ungeheuerlichkeit. Mit Folgen.
Verwaltung rechnet nicht damit
Das königlich-württembergische Innenministerium hat von dem Beschluss der Sozialistischen Internationalen längst Wind bekommen und Vorkehrungen getroffen. Per Erlass fordert die Stuttgarter Behörde, an diesem ersten Tag der Arbeit öffentliche Umzüge zu unterbinden, darüber hinaus Aktionen wie Massenausflüge polizeilich zu überwachen. Nur: Im bürgerlich geprägten, eher beschaulichen Herrenberg rechnet niemand ernsthaft damit, dass Derartiges geschieht. Auch nicht in der hiesigen Verwaltung.
Um 10 Uhr dieses 1. Mai 1890 marschiert die Handwerker-Gruppe also unbehelligt durch Herrenberg und fährt vom Bahnhof aus mit dem Zug nach Stuttgart, wie es dem späteren Bericht des Landjägers Dreher vom 3. Mai 1890 zu entnehmen ist, der die Namen von 16 Männern zwischen 18 und 27 Jahren auflistet, darunter auch mehrere Einheimische aus Oberjesingen, Nufringen und Oberjettingen. Zurück ist die Gruppe dann offenbar gegen 19.30 Uhr, wie dem Landjäger zu Ohren gekommen sein muss, allerdings: "Von einem Lärm oder sonstigen Unfug wurde mir nichts bekannt." Dennoch gibts eine offizielle Ermahnung vom Stadtschultheißenamt. Adressat sind die bei der Renovierung der Stiftskirche tätigen Meister. Sie sollen ihre Leute von sozialdemokratischen Ideen und Versammlungen fernhalten, "was diese versprachen". Das Verfahren wird am 19. Mai 1890 eingestellt, "mangelnden Tatbestandes halber". Doch zu früh gefreut: Durch den Besuch des Schriftstellers und sozialdemokratischen Agitators Jakob Stern in Herrenberg nimmt die Sache der Sozialdemokratie in Herrenberg erst richtig Fahrt auf. Am Samstag, 14. Juni, erscheint im "Gäubote" eine Anzeige, die ein Referat Sterns für den darauffolgenden Tag im Waldhorn ankündigt. Thema: "Zweck und Gründung der Arbeitervereine".
Damit ist die Saat ausgebracht. Drei Tage vor Fischers 25. Geburtstag, am 7. Juli 1890, trägt sie auch schon Früchte: Der Schreinergeselle geht aufs Oberamt der Gäustadt, die zu diesem Zeitpunkt etwa 2 500 Einwohner zählt. Er macht der Behörde die Anzeige, "dass sich in hiesiger Stadt ein Verein unter dem Namen Arbeiterverein Herrenberg am heutigen Tag bilden wird." Beim Formulieren der Satzung hilft Stern tatkräftig mit. Eugen Fischer und die Namen von 31 Mitstreitern - da-runter 13 der 16 jungen Männer, die am
1. Mai dabei waren - finden sich schließlich im "Verzeichnis der vereinigten Arbeiter Herrenbergs". Die meisten von ihnen sind Schreiner, einige Schumacher, zwei Gipser, einer Metzger, einer Drechsler, einer Dreher und einer Schmid. Die Verwaltung beschließt, aller Vorbehalte gegenüber der Sozialdemokratie zum Trotz, sich nicht gegen die Vereinsgründung zu stellen. Allerdings kommt eine recht umfangreiche behördliche Korrespondenz darüber in Gang.